Im Hier und Jetzt sein
“… Eines der wild lebenden Pferde ist zu mir gekommen und hat mir kurz seinen Kopf in die Hand gelegt. Genährt von solchen meditativen Momenten erschien mir bald nichts mehr irgendwie und ich war einfach nur mehr. Einfach sein im Hier und Jetzt. Jetzt weiß ich, wie sich das anfühlt…”
Hier und jetzt. Wir leben ausschließlich im Hier und Jetzt, in diesem unfassbar kurzen Übergang von der Zukunft in die Vergangenheit. Über das Hier und Jetzt ist viel meditiert und geschrieben worden. Auch ich habe ein paar Sätze in meinen Büchern darüber verloren. Und jetzt merke ich, dass das sehr aus dem Kopf in den Körper gekommen ist. Wirklich gespürt habe ich es – hier und jetzt. Im Dartmoor.
Da musste ich also im September 2019 noch einmal in’s Dartmoor reisen, um dem Hier und Jetzt die Hand zu schütteln. Egal, wo wir waren – im unglaublichen Wistman’s Wood, in den neolithischen Steinkreisen und Steinreihen – da war kein Plan, keine Zukunftssorge, kein Streben nach vorne, auch kein Bedauern oder Bedenken von Vergangenem. Einfach nur den nächsten Schritt machen, den nächsten Stein betrachten, den nächsten Tropfen auf der Haut spüren. Und den nächsten. Es waren viele. Heavy winds and rain, sagte der Wetterbericht mehr als einmal. Manchmal auch: wind and strong rain.
Diese Landschaft und das Wetter erlauben keine Gedanken an gestern oder morgen. Es erschien mir müßig und zwecklos, an irgendetwas zu denken. Die sanfte Tundra, der feuchte Boden, die gemächlichen Rinder. Sie laden Dich ein, mit ihnen zu sein. Eines der wild lebenden Pferde ist zu mir gekommen und hat mir kurz seinen Kopf in die Hand gelegt. Genährt von solchen meditativen Momenten erschien mir bald nichts mehr irgendwie und ich war einfach nur mehr. Einfach sein im Hier und Jetzt. Jetzt weiß ich, wie sich das anfühlt.
Man hat ja gerne, wenn man zuviel denkt, den Gedanken, dass Nichts-Denken Gedankenlosigkeit im unguten Sinn bedeutet. Darum denken wir ja nicht gerne nichts. Denken wirkt so bedeutsam, Nichtdenken sinnlos. Das Hirn muss immer irgendetwas absondern, um sich seiner selbst bewusst zu sein. Hauptsache irgendetwas denken, so wie die Standby-Funktion bei Fernsehapparaten. Dieser ganze Denk-Wahn kehrt sich um, wenn man in das Nichtdenken gleitet. Es ist wie das Gleiten in den Schlaf keine bewusste Handlung, sondern Hingabe. Im Falle des Dartmoor ist es ein Eingehen ins Land gewesen.
Die ganz weite Vergangenheit, die Zeit vor rund 5000 Jahren, ist Gegenwart geworden, hat sich mit dem Heute vermischt, vielleicht gar mit der Zukunft. Es war alles eins. Wir sind durch die bronzezeitlichen Steinreihen gegangen, so als wären sie eben erst für uns aufgestellt worden. Die Kraft ist da über Jahrtausende, für Jahrtausende. Das Hier und Jetzt verbindet uns. Im Hier und Jetzt zu sein ist hohe Gegenwärtigkeit und Gewahrwerden. Es gibt keine Sorge, nur Fürsorge mit allem. Es gibt nichts zu tun und man muss sich nicht anstrengen. Es tut sich von selbst. Wenn die Gedanken gehen, wird der Raum frei, dass Sinn einströmen kann.
Vielleicht musste ich zum vierten Mal kommen, um das so zu erleben. Ich bin ein langsamer Mensch. Ich brauche meine Zeit. Der heftige Wind und Regen haben die Dramaturgie der Gegenwart verstärkt. Damit ich es auch wirklich verstehe. Die Elemente haben sich alle Mühe gegeben, mich an die Gegenwart zu binden.
Reiserückblick von Harald Koisser, “Dartmen”, Driver und Co-Reiseleiter ins „Magische Dartmoor“